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Soziales
Warum 30 Dezibel manchmal zu laut sind
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30. April 2025 | Tamara Zimdahl
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Auf dem ehemaligen Fliegerhorst-Gelände vermietet die GSG OLDENBURG ein Wohnhaus an die Autismus-Therapie Weser-Ems gGmbH (AWE). Hier leben neun Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS), jede in einer eigenen Wohnung, alle selbstständig, aber individuell unterstützt im Alltag. Der Bedarf an solchen Wohnformen ist groß, und das nicht nur in Oldenburg. Anlässlich der Inklusionswoche haben wir mit Silke Bruns gesprochen. Sie ist die Pädagogische Leitung der Mobilen Pädagogischen Dienste der AWE in Oldenburg. Im Interview erklärt sie, wie das Zusammenleben in der Hausgemeinschaft funktioniert und warum selbst kleine Alltagssituationen oft eine große Herausforderung für Personen mit einer ASS bedeuten können.
Frau Bruns, Sie begleiten hier neun Menschen mit Autismus. Wie umfangreich ist die Begleitung? Ist immer jemand aus dem Team anwesend?
Silke Bruns: Unsere neun Mieterinnen und Mieter haben alle eigene Wohnungen und leben selbstständig. Das heißt, sie entscheiden eigenständig über ihren Alltag, bekommen von uns aber genau die Unterstützung, die sie individuell brauchen. Manche benötigen nur wenige Stunden Assistenz in der Woche, andere bis zu zwanzig.
Wie sieht die Unterstützung konkret aus?
Silke Bruns: Unsere Unterstützung beginnt im Alltag – dort, wo es konkrete Herausforderungen gibt. Gemeinsam mit den Mieter:innen erarbeiten wir individuelle Strukturen, geben Orientierung und begleiten pädagogisch, wo es notwendig ist. Ziel ist es, Selbstständigkeit zu fördern und Überforderung vorzubeugen – sei es bei der Tagesstruktur, bei der Alltagsorganisation oder im Umgang mit sozialen Situationen.

Silke Bruns, Pädagogische Leitung der Mobilen Pädagogischen Dienste der AWE in Oldenburg
Darüber hinaus unterstützen wir bei Bedarf auch bei praktischen Dingen, etwa bei Einkäufen, Behördengängen oder ärztlichen Terminen. Solche Situationen werden gemeinsam vorbereitet, begleitet und im Anschluss reflektiert.
Und wenn es im Alltag spontanen Assistenzbedarf gibt?
Silke Bruns: Während der Bürozeiten stehen wir auch kurzfristig für Gespräche oder Unterstützung zur Verfügung. Außerhalb dieser Zeiten haben alle Mieter:innen einen individuell erarbeiteten Handlungsplan, der ihnen hilft, in herausfordernden Momenten Orientierung und Sicherheit zu finden.
Und wenn das nicht ausreicht?
Silke Bruns: Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist das therapeutische Angebot, das ergänzend zur pädagogischen Begleitung genutzt werden kann. Es ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung mit individuellen Themen und stärkt die persönliche Entwicklung der Mieter:innen.
Viele Menschen denken bei betreutem Wohnen automatisch an Wohngemeinschaften – aber das ist hier bewusst anders geregelt, richtig?
Silke Bruns: Genau. Alle Klient:innen wohnen bewusst in eigenen Wohnungen. Das beugt typischen Konflikten über Bad-, Küchen- oder Waschmaschinennutzung vor und entspricht dem Wunsch vieler Autist:innen nach Struktur und Rückzugsmöglichkeiten. Gleichzeitig ist uns ein Gemeinschaftsgefühl wichtig. Deshalb bieten wir freiwillige Gruppenangebote an, etwa eine wöchentliche Teerunde mit Gesellschaftsspielen. Diese Angebote werden gerne angenommen und führen zunehmend auch zu selbst organisierten Treffen der Mieter:innen.
Der offene Gemeinschaftsraum bietet Raum für Teerunden, Gesellschaftsspiele und selbstorganisierte Treffen.


Wie feinfühlig müssen Sie und Ihr Team im Assistenz-Alltag sein?
Silke Bruns: Sehr feinfühlig – denn oft geht es um Details, die für Außenstehende kaum wahrnehmbar sind. Geräusche, Gerüche oder Lichtsituationen können für Menschen mit ASS schnell zur Belastung werden. Schon 30 Dezibel können für manche zu viel sein.
Unser Team übernimmt dabei oft eine vermittelnde Rolle: Wir „übersetzen“ zwischen den unterschiedlichen Wahrnehmungen, unterstützen die Kommunikation und helfen dabei, Missverständnisse zu vermeiden – zum Beispiel, wenn es um die Einhaltung der Hausordnung geht. Der eine möchte gerne Musik hören, die andere braucht Ruhe. Solche Unterschiede greifen wir pädagogisch auf und suchen gemeinsam Lösungen.
Auch Termine mit Handwerker:innen oder andere externe Einflüsse, die potenziell überfordern können, filtern wir vorab, bereiten sie mit den Mieter:innen vor und stehen unterstützend zur Seite. Ziel ist es, soziale Überforderung zu vermeiden und Sicherheit im Alltag zu schaffen.
Ist es für Menschen mit Autismus schwierig, Wohnungen zu finden?
Silke Bruns: Ja, sehr schwierig sogar. Der Bedarf an passendem Wohnraum mit Unterstützung ist enorm groß. Allein in Oldenburg könnten wir sofort drei bis vier weitere Häuser mit einem ähnlichen Konzept füllen. Das zeigt, wie dringend solche Wohnformen gebraucht werden. Besonders fehlt es aber an stationären Wohnformen mit 24-Stunden-Betreuung. Dafür bräuchte es deutlich mehr Fachkräfte – und die fehlen im Moment.
Was sind die Herausforderungen?
Silke Bruns: Schon die ersten Schritte auf dem regulären Wohnungsmarkt sind für viele Menschen mit Autismus schwierig – sei es ein Telefonat mit einer Hausverwaltung oder eine Gruppenbesichtigung. Hinzu kommen die Anforderungen an die Wohnungen selbst: Es braucht wenig Lärm, klare Strukturen, keine störenden Lichtquellen oder Gerüche. Was andere Menschen problemlos tolerieren, kann für Menschen mit Autismus eine große Belastung sein.
Die meisten Betroffenen wünschen sich Beziehungen, Freundschaften und soziale Begegnungen. Sie erleben nur häufig Barrieren, die ihnen genau das erschweren.
Silke Bruns, Päd. Leitung der Mobilen Pädagogischen Dienste (AWE Oldenburg)
Sie arbeiten hier eng mit der GSG zusammen. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Silke Bruns: Die Initiative ging von einer Elterngruppe aus. Sie wollte für ihre erwachsenen Kinder mit Autismus eine langfristige, sichere Wohnmöglichkeit schaffen – möglichst mit Unterstützung. Die GSG war offen für die Idee, hat aber gesagt: Das geht nur mit einem erfahrenen Träger. Da viele der jungen Menschen bereits bei uns in Therapie waren, war schnell klar, dass wir das übernehmen.
Begegnen Ihnen wiederkehrende Vorurteile über Autismus?
Silke Bruns: Ja, zum Beispiel die Annahme, dass Personen mit ASS keine sozialen Kontakte wollen und lieber ganz für sich bleiben. Dies ist nicht richtig und oft noch ein weit verbreitetes Missverständnis. Diese Annahme wertet die Wünsche und Bedürfnisse von Autist:innen ab. Die meisten Betroffenen wünschen sich Beziehungen, Freundschaften und soziale Begegnungen. Sie erleben nur häufig Barrieren, die ihnen genau das erschweren. Die Hürden, die ihnen im sozialen Leben begegnen, können vielseitig sein: Schwierigkeiten bei der Kommunikation, Reizüberflutung oder auch Vorurteile, die im Umfeld vorherrschen. Wenn wir als Gesellschaft diese Barrieren abbauen, zeigt sich, dass auch Menschen mit Autismus oft sehr gerne Teil einer Gemeinschaft sein möchten. Genau das erleben wir hier im Wohnprojekt immer wieder.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Silke Bruns: Noch mehr Aufklärung und Akzeptanz in der Gesellschaft, insbesondere in den wichtigen Lebensbereichen Schule, Beruf, Freizeit und Wohnungsmarkt. Am Beispiel Wohnen: Mehr Bewusstsein dafür, dass inklusives Wohnen kein Sonderfall sein darf, sondern eine Selbstverständlichkeit werden sollte. Ebenso, dass wir weitere ähnliche Wohnangebote in Oldenburg und auch an anderen Standorten der Autismus-Therapie Weser-Ems gGmbH verwirklichen können. Denn wenn Menschen die passende Unterstützung erhalten, dann entsteht mehr als nur Wohnraum – nämlich echte gesellschaftliche Teilhabe.
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